ROOM O, Rasthofer/Neumaier at the Glyptothek, 2023, exhibition catalogue with a foreword by Florian Knauß, director of the State Collections of Classical Antiquities and the Glyptothek in Munich, and an essay by Elisabeth Katharina Maier,
48 pages, 24×32 cm
ISBN 978-3-933200-48-8

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SICHTUNG I, Rasthofer/Neumaier, 2018,
exhibition catalogue with an essay by E. K. Maier,
96 pages, 21×30 cm
SICHTUNG – EIN PROZESS
Essay von Elisabeth Katharina Maier
Ein Kunstwerk will gesehen werden. Ein Kunstwerk, das der Betrachterin zudem eine erweiterte Perspektive im direkten Wortsinn eröffnet, ist die aus dreizehn übereinander gestellten stählernen Kuben bestehende Raum- und Klangskulptur SICHTUNG von Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier.
Die begehbare Großskulptur ist vom Künstlerduo als mobile Konstruktion konzipiert, um als orts- und situationsspezifische Arbeit an verschiedenen Orten gezeigt zu werden. Das Erleben eines Ortes wandelt sich durch die Stellung des künstlerischen Werks wie auch die Perzeption der Skulptur einer Veränderung unterliegt.
Gotthold Ephraim Lessing trifft in seinem Traktat Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie im Jahr 1766 eine Unterscheidung der Kunst in Raumkunst und Zeitkunst. Unter Raumkunst fasst Lessing jegliche Kunst, die Raum benötigt sich zu entfalten. Hierzu zählt er Architektur, Bildhauerei und Malerei. Musik und Theater sind für ihn Aufführungskünste: sie benötigen Zeit, ein Nacheinander der ästhetischen Elemente. Lessing fasst diese zusammen als Zeitkunst.
Von dieser theoretischen Unterscheidung ausgehend kann man für die Arbeit von Rasthofer und Neumaier feststellen, dass es sich unzweifelhaft um eine Form der Raumkunst handelt. Zugleich lässt sich von einem Werk der Zeitkunst im lessingschen Sinn sprechen, da es bei jeder Begehung der Skulptur zu einer Form von performativer Interaktion kommt. Der Besucher ist nicht nur Betrachter von Skulptur und Ort, sondern wird selbst zum Teil des Werks – kommt ihm in seinem Inneren durch Bewegung körperlich nah. Die visuelle Erfahrung von Material, Farbe, Volumen, Licht und Schatten wird durch ein akustisches Empfinden der Skulptur erweitert.
Rasthofer und Neumaier schreiben dazu: »Die stählernen Stufen biegen sich unter Belastung minimal und federn bei Entlastung in ihren Ausgangszustand zurück. Das Besteigen der unmerklich schwingenden Treppenstufen durch die Besucher/innen lässt Töne entstehen. Je nach Intensität der Bewegung, Vibration, Temperatur, Druck, Materialspannung und dem Standort der Besucher/innen innerhalb der Skulptur verändert sich der Klang. Jede Besucher/in hinterlässt ein spezifisches Klangmuster – eine Klangspur.«
Bewegt frau sich auf die Skulptur zu, gerät zunächst das Objekt selbst in den Blick. Je näher man ihm kommt, umso größer, unwirklicher und unglaublicher erscheint das mehr als dreißig Meter hohe Werk. Ein erstes fasziniertes Staunen, gepaart mit einer ehrfürchtigen, beinahe akrophobischen Skepsis, die Skulptur zu betreten, setzt ein. Aus der Nähe rückt die Oberfläche in den Fokus. Sie schillert in unterschiedlichsten Tönen und weist eine Patina mit zahlreichen Versehrungen, Einlagerungen und kleinen Unebenheiten auf. Je nach Lichteinfall und Stärke changiert die Farbe des Stahls. Bei längerer Betrachtung beginnt man die Haut der Skulptur mit Mustern aus der Botanik zu vergleichen, möchte sie ertasten und berühren. Die von fern vermeintlich glatte und kühle Oberfläche weist feine Linien und Strukturen von zeichnerischer Qualität auf.
Wer schwindelfrei und ausdauernd genug ist, um die 156 Stufen im Inneren zu erklimmen, gelangt an die Spitze der Skulptur, die in eine offene Plattform mündet. Die Skulptur selbst wird nun zum Blickmittel. Nach einer ersten Phase der Orientierung und Verortung der Umgebung, erscheint diese als Raumfolie, in manchen Momenten einem Gemälde gleich. Erneut setzt ein Staunen ein, eine wohltuende Gefühlsregung, die Kindern sehr viel geläufiger ist als Erwachsenen. Keine Aufnahme einer Drohne oder eine Abbildung von Google Earth vermag eine vergleichbare Emotion auszulösen.
Oben angekommen, wähnt man sich zunächst in der Stille. Je länger man jedoch auf der Plattform verweilt, wird diese erfüllt von sanften Klangeindrücken. Töne, die in der Ebene nicht wahrnehmbar sind, tauchen auf und verwehen wieder. Die audible Komponente der Skulptur vergrößert das Staunen. Der Abstieg aus der Höhe hinterlässt noch einmal eine Klangspur. Das Gewicht des Körpers wirkt jetzt stärker auf die Stufen ein – lautere Töne entstehen. Je nach Gewicht, Schuhwerk und Taktung des Ganges der Besucherinnen variiert ihre Intensität in der als Resonanzraum funktionierenden Stahlfigur.
Wieder unten angekommen, hält das Staunen an und überdauert auch Mehrfachbesuche. Die Bestimmung des Werkes ist es, gänzlich unterschiedliche Orte in den Blick zu nehmen – ein Prozess. Die Eindrücke bei jeder Stellung der Skulptur sind einzigartig. Sie lassen sich nach dem Abbau der Skulptur in gleicher Form nicht wiederholen und bleiben als Erinnerung, als Gefühl, als Melodie zurück.
